Volksfrömmigkeit nach der Reformation

Volksfrömmigkeit nach der Reformation
Volksfrömmigkeit nach der Reformation
 
So deutlich der Wandel auch war, den die Reformatoren in der Geschichte des christlichen Abendlandes in kirchenpolitischer Hinsicht eingeleitet hatten, so gering waren zunächst die Auswirkungen auf die religiöse Alltagsfrömmigkeit in den katholischen Gebieten. Betrachtet man die Aussagen des Konzils von Trient hinsichtlich der zentralen reformatorischen Kritikpunkte, wie zum Beispiel Heiligen-, Reliquien- oder Bilderverehrung, so wurden offenbar im Wesentlichen die Traditionen des Mittelalters fortgeschrieben, wenn auch jetzt als Unterscheidungslehren, also unter dem neuartigen Aspekt der Abgrenzung zu den Reformatoren. Zu diesen antiprotestantischen Formen ist sicherlich besonders die intensivierte Marienfrömmigkeit zu rechnen. Marienwallfahrten, -feste und Gebete wie das »Ave Maria« und »Salve Regina« hatten in der Zeit des Konfessionalismus Konjunktur, Papst Pius V. propagierte eifrig das Beten des Rosenkranzes, der quasi zu einer Art religiösen Kennzeichens avancieren konnte. Ein ähnlicher konfessioneller Stellenwert kam den Fronleichnamsprozessionen und der eucharistischen Frömmigkeit überhaupt zu. Nachhaltigere Veränderungen ergaben sich nur langsam, zum einen aus den Bestrebungen zur Vereinheitlichung beziehungsweise der Einschränkung regionaler Tendenzen wie im Falle des Heiligenkalenders, zum anderen durch die verbesserte Ausbildung der Geistlichen und die Aktivitäten der Orden. Der Intensivierung der Seelsorge wie auch der Konfessionalisierung dienten auch die zahlreichen und vielgestaltigen Katechismen. Stände übergreifende Bruderschaften - wie die von Karl Borromäus eingerichtete »Bruderschaft von der christlichen Lehre« - übernahmen weitgehend die Aufgaben der mittelalterlichen Zünfte, widmeten sich der Volksmission und nahmen gemeinsam mit anderen frommen Vereinigungen soziale und karitative Aufgaben wahr.
 
Im Unterschied zu den schlichten protestantischen Frömmigkeitsformen spiegeln vor allem die katholischen Barockbauten mit ihrer gehäuften Darstellung kontroverstheologischer Themen (von Maria, den Heiligen oder dem Geheimnis der Wesensverwandlung von Brot und Wein in der Eucharistie) auch den bewussten Einsatz von Kunst und Architektur für die kirchliche Verkündigung. Diese massive Barockfrömmigkeit fand in gleicher Weise ihren Niederschlag in der religiösen Literatur der Zeit, die von der wachsenden Alphabetisierung profitierte. Moralische Exempel und Predigtmärchen dienten der unterhaltsamen Glaubensvermittlung, und gedruckte Predigtsammlungen wurden in der Familie vorgelesen. Die Gebet- und Andachtsbüchlein sowie erbauliche Literatur aller Art sollten zur Vertiefung des Glaubens und der Lehre beitragen, andererseits wachte man durch Kontrollen und Verbote eifersüchtig darüber, dass unerwünschte Literatur von der Bevölkerung ferngehalten wurde. Die überbordenden Frömmigkeitsformen des katholischen Barockzeitalters standen in krassem Gegensatz zu den Ausdrucksformen in den protestantischen Gemeinden. Deren starke Orientierung an der Bibel brachte ein deutliches Zurückdrängen äußerlicher Elemente und die Aufgabe einer Vielzahl von Ritualen und Zeremonien mit sich. Der Kirchenschmuck entfiel; in der Messe standen Besinnung und Belehrung im Vordergrund; das Kirchenlied prägte die gemeinsame Identität und verankerte das Evangelium bei den Gläubigen.
 
Das exzessive Wallfahrtswesen verdeutlicht auch die Nähe der Volksfrömmigkeit zum Wunder- und Aberglauben. Die Wallfahrten des 16. Jahrhunderts unterscheiden sich deutlich von den Pilgerreisen des Mittelalters: So gerieten die Individual- und Fernwallfahrten zugunsten der Massen- und Nahwallfahrten in den Hintergrund. Wallfahrtsstätten wie Altötting, Heiligenblut oder Mariazell galten als privilegierte Orte der Gnade, an denen auch in aussichtslosen Situationen noch Hilfe zu erwarten war. Zahlreiche Mirakelbücher sind Zeugnisse des massiven Wunderglaubens der Bevölkerung: Die erfahrene Hilfe wurde notiert und protokolliert und mehrte dadurch noch den Ruhm der heiligen Stätte. Votivgaben und Kerzen zeugten vom Dank der Besucher.
 
Die Alltagsfrömmigkeit der frühen Neuzeit schöpfte allerdings nicht nur aus christlichen Traditionen, sondern bediente sich ebenso der fortlebenden heidnisch-magischen Vorstellungen. Diese Praktiken gingen mit den christlichen Inhalten oft eine enge Synthese ein. Magische Rituale durchdrangen in Form von Lebensweisheiten, Verhaltensmaßregeln und allgemeinem Brauchtum die Lebenspraxis der Menschen, und auch die christlichen Riten liefen stets Gefahr, magisch missverstanden oder umgedeutet zu werden. Diverse Praktiken dienten der Abwehr von Krankheiten und sollten Unglücksfälle aller Art verhindern, Haus und Hof schützten, Segen und Fruchtbarkeit bringen oder das Liebesglück garantieren.
 
Den düstersten Kontrast zu der tief empfundenen Frömmigkeit des konfessionellen Zeitalters stellte der Hexenwahn dar. In Schüben brachen die Hexenverfolgungen von der Mitte des 16. bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts über große Teile Europas herein. Schon im Spätmittelalter waren der Hexenglaube und die Praktiken der Hexerei voll ausgebildet. Zu diesen gehörte der Pakt mit dem Teufel und die Teufelsbuhlschaft, der sexuelle Umgang mit dem Teufel, ebenso wie der Hexensabbat, Schadenzauber oder schwarze Messen. Nachdem bereits im Hochmittelalter Hexerei als Ketzerei auch staatlich verfolgt und Inquisition und Folter durch päpstliche Anordnungen legitimiert worden waren, fanden erste größere Verfolgungen bereits im 15. Jahrhundert in Südfrankreich statt. Ein systematisches Fundament erhielt der Hexenglaube allerdings erst durch den Dominikaner Heinrich Institoris und seinen »Hexenhammer«, der das frauenfeindliche Bild der Hexe bis ins 17. Jahrhundert maßgeblich prägte und die literarische Vorlage für eine florierende Literaturgattung lieferte. Seither machte man den Schadenzauber von Hexen für alle Epidemien, Krisen und Katastrophen verantwortlich, die im damaligen Weltbild anders nicht hinreichend erklärt werden konnten.
 
Die übliche Anklageerhebung aufgrund bloßer Denunziation und der rücksichtslose Einsatz von Folter zur Erpressung von Geständnissen und von Namen vermeintlicher Mitschuldiger ließen die Zahl der Hexenprozesse in die Höhe schnellen. Selbst die vorsichtigsten Schätzungen gehen von einer Gesamtzahl von 100 000 Opfern aus, die überwiegend allein stehende Frauen oder Mitglieder von Randgruppen waren. Die Verfolgungen fanden hauptsächlich in Deutschland, Frankreich und der Schweiz statt, wobei die Reformation sogar noch zur Verbreitung der Hexenverfolgungen bis Dänemark, Schottland und Polen beitrug. Einen der Schwerpunkte im westdeutschen Raum bildete die Hexenverfolgung der Jahre 1626 bis 1631 im Kurfürstentum Köln. Hier wurde ein regelrechtes Vernichtungsprogramm betrieben, das einem Krieg gleichkam, in dem die Hexenjagd über Jahre zu einem Hauptziel der Politik wurde.
 
Erstaunlicherweise waren es durchaus auch Mitglieder der Bildungselite, die zur Verfolgung aufriefen oder sie befürworteten. Zu ihnen gehörten Männer wie Luther oder der französische Humanist und Staatstheoretiker Jean Bodin ebenso wie der Trierer Weihbischof Peter Binsfeld. Die Kritik an den Hexenverfolgungen entzündete sich - wenn überhaupt - dann an der zweifelhaften juristischen Verfahrensweise oder der persönlichen Bereicherung der Inquisitoren. Eine grundsätzliche Kritik übte erst der kalvinistische Arzt Johannes Weyer 1563, der in seinem Werk »Über die Blendwerke der Dämonen« die Hexerei auf Einbildung und Wahnvorstellungen der Betroffenen zurückführte und für ihre geistige Unzurechnungsfähigkeit plädierte. Als der bekannteste Gegner der Hexenprozesse gilt der Jesuit Friedrich von Spee, der mit seiner Schrift »Rechtliches Bedenken gegen die Hexenprozesse« (»Cautio criminalis«) 1631 erneut die Rechtspraxis angriff. Trotz aller Einwände konnte sich der Hexenglaube lange halten, noch 1782 fand eine letzte gesetzliche Hinrichtung in der Schweiz statt. Mit der Aufklärung jedoch ging das Zeitalter der Hexenverfolgungen zu Ende.
 
Dr. Ulrich Rudnick
 
 
Volksfrömmigkeit in der frühen Neuzeit, herausgegeben von Hansgeorg Molitor und Heribert Smolinsky. Beiträge von Klaus Ganzer u. a. Münster 1994.
 Wolf, Hans-Jürgen: Hexenwahn. Hexen in Geschichte und Gegenwart. Sonderausgabe Bindlach 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

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